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Pure Emotionen zwischen Luxus und Askese

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Er ist aus Metall und liegt dennoch warm in der Hand. Er hat ein kleines Rädchen, an dem man schön rumspielen kann. Man kann ihn als Handschmeichler benutzen. Manchmal hängt er lässig an meiner Gürtelschlaufe. Einmal hing ich mit meinem ganzen Gewicht und meiner Angst an ihm – überhaupt nicht lässig. Es ist ein Karabinerhaken. Er ist ein Geschenk und mit ihm habe ich aufregende, lustige, wilde, todesängstliche und verrückte Momente erlebt.

„Passage der Gegensätze“ hieß das Abenteuer. In schicken Autos auf ein schickes Schiff Richtung Norwegen fahren mit Wellness und allem Chi-Chi. Das war der eine Part. Und dann als Kontrastprogramm nach Schweden ins Outdoorcamp. Outdoor heißt draußen. Und draußen hieß wirklich draußen – Ende September und das in Schweden. Ich hatte mich wohl ein wenig zu sehr an dem Wort Wellness festgebissen, beim Lesen der Reisebeschreibung, denn erst kurz vor der Abfahrt wurde mir klar: Nix Zelt, sondern nur Plane. 25 wildfremde Menschen versuchen gemeinsam in der Pampa klarzukommen – ohne Heizung, fließend Wasser und selbstverständlich auch ohne die große weiße Keramikschüssel, die der zivilisierte Mensch ab und zu alleine nutzt. An dieser Stelle blinkte immer die große Warnlampe auf: Achtung, Achtung, Sie verlassen ihre Komfortzone! Ein wunderbares Wort, wenn nicht gar mein neues Lieblingswort: „Komfortzone“! Die ist bei jedem Menschen anders. Wie es mit der persönlichen Komfortzone bestellt ist, findet man auf so einer Reise auf jeden Fall heraus.

Die Vorbereitung: Als Waage bin ich nicht gerade entscheidungsfreudig. Als Frau einen Koffer zu packen, macht die Sache auch nicht einfacher. Und diese Reise mit den Varianten schick auf Schiff – lässig im Outdoorcamp, ließ den Klamottenberg beträchtlich wachsen. Sich bei 25 Grad in schwedische Nächte hineinzudenken, war nicht einfach. Aber als alte Frostbeule hatte ich natürlich Thermo-Unterwäsche und Fleece-Jacke im Gepäck.

„Ich wusste gar nicht was ich mitnehmen sollte.“ Mit diesem Kollektiv-Satz eroberten mich meine Auto-Kollegen im Sturm. Janner, Ecki und Kai versuchten ihr beträchtliches Übergepäck in den nigelnagelneuen Touareg zu pressen, die uns VW zur Verfügung gestellt hatten, und da wusste ich: Das sind meine Jungs. Wir ticken gleich.

„Na, musst Du schön Maden und Würmer essen?“, lautete die wohl meistgestellte Frage vor der Abfahrt. Und in der Tat, bereitete mir dieser Part die meisten Kopfschmerzen. Never! Ich hatte definitiv Null Ehrgeiz als die neue Frau Nehberg – die Kakerlaken-Brutzlerin, in die Geschichte einzugehen. Ich würde alles mitmachen, aber nicht das. Und das war sie bereits, die Passage der Gegensätze: Lecker Luxus-Buffet auf’m Schiffchen und dann zwei Tage Null-Diät. Nicht mit mir. Voller Panik stopfte ich Unmengen von Müsli-Riegeln, kleine Salami-Würstchen und ähnliches Trockenfutter in alle möglichen Ritzen meines Gepäckes. Irgendwie ja auch peinlich. Auf gar keinen Fall, wollte ich mich bei meinen Camp-Kollegen outen. Alpträume plagten mich vor der Abfahrt: Heimlich müsste ich mich des Nächtens unerlaubt von meiner Truppe entfernen, um gierig im Schutz der Nacht meine Riegel zu vertilgen. Doch der intensive Duft der abgestandenen Salami lockt Bären oder anderes gefährliches Viehzeug an. Nur meine sündhaft teuren Outdoor-Schuhe und orangefarbene Plastikfolie bleiben von mir übrig und auf meinen Grabstein wird stehen: Eine „Bifi brachte sie ins Grab.“



Das Schiff: „Sie fahren mit der MS Color Fantasy nach Oslo.“ So weit, so gut. Diese Aussicht löst mit Sicherheit bei vielen Menschen wohlige Schauer aus. Ich erinnerte mich zunächst mit Schaudern an einen total verkorksten Boots-Ausflug in Portugal. Meine Befürchtungen verpufften ins Nichts. Denn eine Nussschale ist wirklich nicht mit so einem riesigen weißen Luxus-Liner zu vergleichen. Wenn man nicht gerade auf dem Promenaden-Deck steht, vergisst man tatsächlich, dass man sich auf einem Schiff befindet. Die glitzernden Einkaufspassagen vermitteln den Eindruck von „Sophienhof“, aber nicht, dass man sich auf hoher See tummelt. Und wenn es schwankt, hat das eher mit dem ausgiebigen Besuch des Pups oder der sehr netten Disco zu tun. Das Fehlen der Seekrankheit wirkt sich sehr positiv auf die Nahrungsaufnahme aus. Und das ist gut so, denn sonst könnte man sich nicht an den sehr leckeren Schlemmerbüfetts laben.

Mein Profil: So eine Reise macht man nicht nur aus Vergnügen. In der Arbeitswelt sind sie nützlich, um gruppendynamische Prozesse zu fördern, Teams zusammen zu stellen oder Führungskräfte und Mitarbeiter zu schulen. Daher gehört auch ein psychologischer Teil dazu. Für das sogenannte Reiss-Profil, das der Amerikaner Steven Reiss entwickelt hat, musste ich 180 Fragen vor der Reise unterteilt in 16 Motiven, beantworten. Was bedeuten mir Macht, Status, Familie, Ehre, Anerkennung und andere Dinge? Meine Trainerin Sylke, die für die Denkfabrik in Bordesholm dabei war, erklärt mir ausführlich während der Reise, wie ich meine Stärken nutzen und meine Schwächen überwinden kann. Wäre ich eine Personal-Chefin wüsste ich nun, wie ich meine Mitarbeiter aussuchen würde.

Die Gruppe: Man nehme 25 fremde Menschen und lasse sie fünf Tage in Luxus und Askese miteinander verbringen. Das sorgt für jede Menge Adrenalin, Heiterkeit und Abenteuer.
Der Funke ist gleich in der ersten Stunde übergesprungen: Wir alle hatten eine abenteuerliche Reise angetreten Das Programm war zwar bekannt, aber keiner wusste, was tatsächlich kam. Das führte zu einer Einschulungsstimmung – ein wenig Angst gemischt mit viel Vorfreude und Abenteuerlust – das verbindet. Im Camp liegt man mit 25 Fremden unter einer Zeltplane und muss eindeutig Einblicke in seine Intimsphäre gewähren. Man hat Prüfungen zu bestehen, die einfach Nähe schaffen. Man steigt komplett aus seinem Alltag aus und für ein paar Tage hat man so etwas, wie eine neue Familie.

Der Mensch an sich ist schlicht gestrickt und doch so individuell. Er ist leicht zu durchschauen und doch so kompliziert. Genau das kann man auf so einer Reise herrlich erkennen. Wer will der Bestimmer sein? Wer schafft es sich immer und überall vor der Arbeit zu drücken und wer boxt für sein Team alles durch? Es gibt die Neandertaler, die Pfadfinder, die Pausenclowns, die Diven, die Kumpel, die Sportlichen, die Einsamen, die Aufschneider, die Helden, die Erzähler, die Stillen, die Poeten, die Lebenskünstler, die Organisierer, die Harten und die Weichen und nicht zu vergessen – die Spielverderber. Aber die geben die Würze, denn schließlich will der Mensch sich auch über etwas aufregen.

Unvergessliche Momente: Volles Programm, aber wenig Schlaf. Ein wirklich interessante Entdeckung. „Schlaflos in Oslo“ hätte auch die Reise heißen können, denn an Schlaf war oft nicht zu denken. Nicht, weil es an Gelegenheit gemangelt hätte, sondern weil man einerseits nichts verpassen wollte und andererseits viel zu aufgeregt war: Mit dem Schiff durch die Fjorde zu gleiten. Durchquasselte Nächte mit Kabinen-Kollegin Gisela. Nach fünfstündigen Orientierungsmarsch still an einem atemberaubenden Bergsee zu sitzen. Irische Balladen am Lagerfeuer unterm schwedischen Sternenhimmel von Teamkollege Colm zu hören. Vom Knacken des Lagerfeuers geweckt zu werden – unvergesslich!

Am Abgrund: Seine Grenzen finden. Genau wie bei der Komfortzone, hat jeder Mensch seine persönlichen Grenzen. Ganz deutlich wurde das beim Abseilen. Während ein Teil der Gruppe nach mehr Höhe gierte und fast enttäuscht die 20 Meter an der Steilwand absolviert, kam ich dort meiner persönlichen Grenze sehr nahe. Nicht gerade als Sportskanone bekannt, war schon der Aufstieg zum Abseilpunkt eine Herausforderung für mich. Außerdem hatte ich an diesem Tag bereits einen fünfstündigen Orientierungsmarsch absolviert. Je höher ich stieg, desto mehr rutschte mein Herz in die Hose. Dabei fühlt man sich beim Anlegen der Bergsteigerkluft noch cool wie John Wayne. Das Geschirr mit Helm verlieh mir ein Gefühl von Sportlichkeit und Lässigkeit. (Erst auf den Fotos musste ich entdecken, dass man eher wie ein geschnürter Rollbraten aussieht). Mit jedem Höhenmeter verstummte meine sonst so vorlaute Klappe und die Angst hatte mich fest im Griff. Ich hätte es nicht tun müssen, aber ich wollte es. Und weil ich so meiner Angst am besten begegnen kann, wollte ich auch die erste sein. Eigentlich war der Berg nicht wirklich hoch. Meine Wahrnehmung war aber eine andere. Je näher ich der Kante kam, über die ich mich rückwärts einfach in die Seile hängen sollte, desto mehr versagte mein Körper seinen Dienst. Meine Knie wurden weich und zitterten. Meine Gruppe versuchte mir mit Worten Halt zu geben und dann wurde es ganz still. Denn es war so weit. Ich konnte nicht nach unten schauen, um meine Schritte zu sichern. Dann hätte mich die Angst übermannt. Eine sehr skurrile Atmosphäre. Man fühlt sich hysterisch, das Herz klopft laut und der Atem geht schwer. Die Tränen laufen lautlos an meinem Gesicht runter und ich kriege kaum noch Luft. Oliver, der Outdoor-Trainer, hat jetzt mein Schicksal in der Hand. Er sichert das Seil, das mich vor dem Sturz bewahren soll. Theoretisch kann mir nichts passieren, aber der Verstand kann das nicht einordnen. Da ist einfach nur Angst. Und dennoch der Wille, es zu tun. Oliver spricht sanft, aber bestimmt auf mich ein. Immer wieder sagt er, dass ich sicher bin. Er findet genau die richtigen Worte und ich wage das für mich Unmögliche.

Und zum Schluss die Frage: Warum macht der Mensch eigentlich so etwas? Darauf gibt es viele Antworten: Weil er in kürzester Zeit Dinge über sich erfahren kann, die er noch nicht kannte. Weil er mit wildfremden Menschen ganz innig werden kann. Weil er manchmal neue Freunde findet. Weil er Grenzen sucht und findet. Weil er längst verschüttete Dinge wieder aufleben lässt. Weil er seine Stärken und seine Schwächen erkennt. Weil er endlich mal wieder eine Nacht durchtanzt und Bauchschmerzen vor Lachen bekommt. Weil er spürt, dass er lebt. Und immer, wenn man im Alltag all diese Dinge vergisst, dann hat er einen kleinen Karabinerhaken aus Metall, der ihn daran erinnert…

Extra: Und das sind die Experten, wenn man seine Grenzen finden will: Heiner Enterich (Color Line, Kiel), Ronald Büssow (Denk-Fabrik), Sylke Schliep (Denk-Fabrik), Carsten Krömer und Oliver Steinhoff (Raus in die Natur, Großenaspe). Kontakt: www.denk-fabrik-am-See.de.

Von Alexandra Brosowski